Eustory-Jahresversammlung 2022

29./30. März, 1. April 2022
«24. February 2022: A Historic Turning Point for Europe?»

Dieses EUSTORY-Treffen stand ganz im Zeichen des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine und der Fragen, die in dessen Zusammenhang aufgeworfen werden können.

Tatiana Zhurzhenko, ukrainische Forscherin aus Kharkiv am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, befasste sich in ihrem Referat mit dem Problem der Instrumentalisierung des historischen Gedächtnisses, aufgezeigt an Putins Beispiel der Legitimierung seines Aggressionskriegs gegen die Ukraine.

Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, schilderte deren schwierige Situation nach der Auflösung durch Putin kurz vor Beginn des Ukrainekriegs. MEMORIAL ist aber fest gewillt, seine Aktivitäten auch ausserhalb Russlands fortzusetzen.

Die Aktivitäten der einzelnen Landeswettbewerbe und die internationale Zusammenarbeit im europäischen Netzwerk von EUSTORY waren ein weiteres wichtiges Thema am Jahrestreffen.

Dienstag, 29. März
In seinen einleitenden Worten erläuterte Thomas Paulsen, Vorstandsmitglied der Körber-Stiftung, das Dilemma, in dem sich die Stiftung bezüglich des Ukrainekrieges sieht. Einerseits tritt sie konsequent für den Dialog als Instrument der Konfliktlösung ein, anderseits resultiert die Erkenntnis aus Putins  Gesprächsverweigerung und Kriegsführung, dass ein Dialog nicht um jeden Preis geführt werden kann. Deutschland sieht sich durch den Ukrainekrieg herausgefordert, von seiner Praxis der Nonproliferation von Waffen Abschied zu nehmen.

Tatiana Zhurzhenko thematisierte die Frage der Instrumentalisierung des historischen Gedächtnisses u.a. als Privilegierung gewisser historischer Narrative und als „Instanz“, die keinen Raum für den Dialog mit andern Gedächtnisperspektiven zulässt und damit eine destruktive Funktion einnimmt.
Putin benutzt falsche historische Narrative, um die russische „Spezialoperation“ in der Ukraine zu legitimieren: Die Ukraine sei ein künstlicher Staat; Russen und Ukrainer bildeten ein einziges Volk; in der Ukraine liege die Macht in den Händen radikaler Nationalisten und Nazis; der Westen hätte das Land vereinnahmt. Eine echte Debatte mit Putin ist bei solchen Annahmen nicht möglich. Putins einseitiges historische Gedächtnis ist für ihn Vorwand, obsessiv Krieg gegen die Ukraine zu führen.

Verändert der Krieg in der Ukraine Europa? Wir haben keine Antwort, denn wir befinden uns in einem Prozess. Gleichzeitig sollten wir wieder über das Europa nach 1945 nachdenken: Was wurde damals auf unserm Kontinent aufgebaut? Welches ist der Platz Russlands in diesem Europa?

Die Annahme, die russische Welt stelle eine alternative Zivilisation zur westlichen dar, stützt die verkappte Ideologie des russischen Expansionismus und Imperialismus, den auch die Sowjetunion praktiziert hatte.
Verhandlungen mit Russland müssten ein nicht koloniales nationales Narrativ zur Grundlage haben – eine neue kulturelle und intellektuelle Perspektive!

Aus der Geschichte haben Ukrainer – und wir alle – zu lernen, historische Fakten von persönlichen Erfahrungen analytisch zu trennen und einen Diskurs über kollektive Verantwortlichkeiten zu führen.

Einen Höhepunkt des Treffens bildete Irina Sherbakovas eindrückliches Referat zu zukünftigen Perspektiven von MEMORIAL INTERNATIONAL. MEMORIAL stellt Forschungen zu destruktiven Tendenzen der russischen Geschichte an, namentlich zum Stalinismus und seinen Opfern. 
Eine Katastrophe wie den Ukrainekrieg hatte die Organisation nicht erwarte; es handelt sich um einen Krieg, nicht um eine sogenannte „Spezialoperation“!

Seit 22 Jahren macht MEMORIAL den Geschichtswettbewerb von EUSTORY in den russischen Schulen bekannt. Das Regime warf der Organisation in der Folge vor, ausländische Agenten stünden hinter ihr.  Sie wurde zur Zielscheibe von Fernsehsendungen, Teilnehmer*innen des Wettbewerbs bedrohte der Staat direkt. MEMORIAL erfreute sich nach der Liquidation durch die russische Justiz grosser Solidarität in ganz Europa. Das Gericht warf der Organisation vor, den Schülern/innen westliche Werte zu vermitteln. 

MEMORIAL INTERNATIONAL sieht sich zurzeit gezwungen, den Wettbewerb zu stoppen. 
Zahlreiche Mitglieder haben Russland verlassen, setzen ihre Arbeit aber im Ausland fort. Die Organisation bemüht sich, die 1500 Akten von Opfern der sowjetischen Repression zu sichern und das Dokumentationszentrum im Ausland fortzuführen. Die Situation der Organisation bleibt aber unklar und schwierig. 

Der Krieg in der Ukraine ist desaströs für dieses Land und für die russische Gesellschaft, da diese die Fakten des Kriegs verdrängt und geschichtliche Parallelen ausblendet. Putins Machtentfaltung half die Tatsache, dass Russland keine zivile Gesellschaft und keine Demokratie kennt. Von grosser Bedeutung
ist deshalb die Solidarität mit der Ukraine und mit Memorial: Power of the weak!

Mittwoch, 30. März 
Während dieser Sitzung standen Fragen zum EUSTORY-Netzwerk und zu den einzelnen Landeswettbewerben zur Diskussion. EUSTORY zählte 2018  23 Landeswettbewerbe, 2019 – 22 infolge politischer Schwierigkeiten 4 weniger, 5 Wettbewerbe waren von Problemen im Zusammenhang mit der Pandemie betroffen.

Andrii Fert, Projektkoordinator des Deutschen Volkshochschul-Verbandes International, berichtete über die EUSTORY-Mitglieder Armenien, Weissrussland, Georgien, Moldawien und Ukraine. Ihr gemeinsames Wettbewerbsthema: die sowjetische und postsowjetische Geschichte – wirksam bis in die familiären und örtlichen gesellschaftlichen Strukturen. Workshops bereiten Lehrkräfte und Tutoren auf ihre Rolle als Mentoren vor. Materialien stehen in der Ukraine und Modawien als Podcasts, in Armenien und Georgien als eine Art Handbücher zur Verfügung. 

Herausforderungen, die sich für mehrere Landeswettbewerbe stellen: Wie sind mehr Lehrpersonen und Tutoren für ein Engagement zu gewinnen, wie vermehrt Schüler/innen für die Teilnahme am Wettbewerb zu motivieren? Vorschläge: Curricula mit dem Wettbewerbsthema verknüpfen;  soziale Medien vermehrt für den Wettbewerb nutzen – u.a. Erklärungsvideos auf Youtube stellen, Website für die Wettbewerbe gestalten; inhaltliche Fragen diskutieren – bspw. die Thematik der Immigration als integraler Bestandteil der Landesgeschichte verstehen.

Freitag, 1. April 2022
Zuzana  Jezerska von EUSTORY Slowakei
 präsentierte eine interessante Initiative für ein digitales europäisches Programm zur Analyse historischer Narrative.

Natalia Kolyagina, Mitglied von MEMORIAL INTERNATIONAL, beleuchtete die Arbeit der Organisation im Ausland. Im Vordergrund stehen die Zusammenlegung der Archive an einem sicheren Ort und deren Digitalisierung. 

Laura Maffizoli, Sozialanthropologin der Universität Manchester, berichtete über eine Studie zu Narrativen der Teilnehmer*innen des Geschichtswettbewerbs Georgiens. Sie schildern die sowjetische Vergangenheit aus der Perspektive der Opfer, der Okkupationsmacht und der nach Freiheit strebenden Menschen. Diese Perspektiven können als Schwarz-Weiss-Positionen gelesen werden – eine notwendige differenzierte Analyse kommt der komplexen geschichtlichen Realität näher!

Zum Abschluss des Jahrestreffens informierte Katja Fausser, leitende Direktorin von EUSTORY, über kommende Aktivitäten von EUSTORY im Jahr 2022. Geplant ist u.a. die Schaffung von on-line Workshops für Preisgewinner*innen der Landeswettbewerbe in den Bereichen interkulturelle Kommunikation, transnationale Justiz (in Form eines Simulationsspiels) und Moderierung eines europäischen Parlaments. Bewerben können sich Interessent*innen ab August 2022. 

Den wirklichen Abschluss des Annual Network Meetings bildete jedoch ein entspannter Apéro der online zugeschalteten Eustoryaner*innen.

Antonia Schmidlin und Markus Holenstein