«History In A Polarised World»
Das EUSTORY-Jahrestreffen 2024 fand in Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens, statt, einem Land, das wegen seiner demokratischen Struktur, seiner EU-orientierten Aussenpolitik und der Einflussnahme Putins als ein von der politischen Polarisierung betroffenes Land zu bezeichnen ist.
In diesen politischen-historischen Rahmen liessen sich die Themen des EUSTORY-Jahrestreffens 2024 einordnen:
Wie lässt sich ein unabhängiger Journalismus in diesem politischen Spannungsfeld praktizieren? Was macht die Geschichte Moldawiens einzigartig? Wie gestaltet sich Geschichtsunterricht in der Republik Moldawien? Wie setzen sich Schulen in Armenien, Georgien, Moldawien und der Ukraine mit geschichtsbasierter Propaganda auseinander? Wie gestaltet sich Unterricht in der kriegsversehrten Ukraine?
Weitere Referate, Workshops und Diskussionen – u.a. zum Thema KI und Geschichtsunterricht – sowie historische Führungen in Chisinau und Orheiul Vechi bereicherten das Treffen.
Donnerstag, 7. März 2024
Der Besuch des Zentrums für unabhängigen Journalismus – die Journalistenschule der Universität Chisinau – bildete den Einstieg ins EUSTORY-Jahrestreffen 2024. Die moldawische Journalistin und Schriftstellerin Paula Erizanu schilderte die mediale Propaganda Russlands in Moldawien. Die Fähigkeit, sie zu analysieren, gehört zu den beruflichen Kompetenzen von Journalisten und Lehrkräften. Das Journalismusinstitut verfasst aufklärende Lehrmittel für alle Schulstufen in rumänischer und russischer Sprache, die auch in Transnistrien einsetzbar wären. Es bietet Medienausbildungen an, publiziert kritische Handbücher und ist auf Facebook und Tiktok präsent.
Eine Stadtführung vermittelte uns einen Einblick in die geschichtliche Entwicklung des Zentrums Chisinaus’, charakterisiert durch den Bau langer Strassen, Plätze und markanter Gebäude seit 1830 – z.B. die moldauisch-orthodoxe Kathedrale und der Triumphbogen, der an den Sieg des Zarenreichs im russich-türkischen Krieg 1828/29 und die Befreiung Chisinaus 1945 durch die Rote Armee erinnert. Zentrales Monument für die Geschichte der Moldau ist die 1927 errichtete Statue Stefan des Grossen, Fürst der Moldau 1457 – 1504. Er verteidigte die starke Stellung des Fürstentums Moldau gegen die regionale Dominanz des Osmanischen Reichs und die Königreiche Ungarn und Polen. Für den rumänischen Nationalstaat wurde Stefan der Grosse zur Symbolfigur.
Nach 1945 fielen wertvolle Gebäude dem Abbruch zum Opfer; Resten alter Gebäude wurden überbaut, nach 1991 jedoch rekonstruiert resp. freigelegt und damit städtebaulich ein Bezug zur Vergangenheit hergestellt.
Freitag, 8. März
Tagungsort war die pädagogische Hochschule. Ihr ist das nationale Zentrum für digitale Innovation im Bildungswesen angegliedert ist. In ihrer Begrüssungsrede hielt Katja Fausser, Programmleiterin EUSTORY, fest, die Mission von EUSTORY sei es, durch politische Bildung kritisches Denken zu fördern und junge Menschen zu animieren, als emanzipierte Bürger/innen politisch zu handeln. Valentina Olaru, Staatssekretärin des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, lobte die Kapazität von EUSTORY und sein Engagement für kritische Geschichtsschreibung – die auch in Moldawien nicht ohne Bedeutung ist! Thomas Paulsen, Vorstand der Körber-Stiftung, zeigte sich in seiner Grussadresse von Moldawiens Willen, sich mit seinen politischen Herausforderungen zu konfrontieren, beeindruckt.
In der ersten Sitzung befasste sichder rumänische Historiker Andrei Cusco mit der Frage, worin das Spezifikum der Geschichte Moldawiens besteht. Er sieht Bessarabien im 19.und 20. Jahrhundert als Streitobjekt zwischen dem Zarenreich resp. der Sowjetunion und Rumänien: Verschobene Grenzen, Multiethnizität und die koloniale Politik von russischer und sowjetischer Seite verhinderten die Bildung eines moldawischen Nationalstaates. Moldawien behielt den Status eines Grenzlandes. Als weiteres Problem ist heute der Transnistrienkonflikt zu erwähnen. Die rumänische und russische Sprache existieren nebeneinander. Symbol für eine autonome Entwicklung Modawiens ist die Statue Stefan des Grossen in Chisinau, Symbol der russischen und sowjetischen Einflussnahme in Moldawien die Statue von Alexander W. Suworow in Tiraspol und jene Zar Alexanders I. in Chisinau.
Thema des Referatsdes moldawischen Historikers Sergiu Musteata waren die Curricula des Geschichtsunterrichts nach 1991. Je nach politischer Ausrichtung einer moldawischen Regierung erfahren sie eine Änderung. 1991 – 1995 sind Kurse in rumänischer und Weltgeschichte obligatorisch. Die 2001 gewählte kommunistische Regierung reduzierte die Gewichtung der rumänischen Geschichte in den Geschichtslehrmitteln. Das Curriculum von 2019 unterstreicht die Kompetenzorientierung des Geschichtsunterrichts. Die Vielfalt der Gesellschaft soll in den Geschichtslehrmitteln Eingang finden: Zweisprachigkeit, Erinnerung an den Holocaust, Präsenz der sowjetischen Vergangenheit im Bewusstsein eines Teils der Bevölkerung, Propaganda Putins und Auswanderung.
In einer dritten Sitzung erläuterte Mire Mladenovski, Geschichtslehrer aus Nordmazedonien, die Ergebnisse einer in Armenien, Georgien, Moldau und der Ukraine durchgeführten Untersuchung: Wie beurteilen Geschichtslehrpersonen die fachliche Ausbildung und die Geschichtslehrmittel? Fördern sie kritisches Denken gegenüber geschichtsbasierter Propaganda? Alle vier Staaten sind mit denselben Herausforderungen konfrontiert, insbesondere mit geschichtsbasierter Propaganda. Die Lehrmittel vernachlässigen die Quellenbearbeitung und ermutigen nicht zum kritischen Denken, enthalten keine modernen Unterrichtsstandards. Die Qualität der Ausbildung von Geschichtslehrpersonen und ihrer fachlichen Kapazitäten sind deshalb zu verbessern.Multiperspektivität und Kontextualisierung sollen in die Curricula und die Lehrmittel integriert werden, die Nationalgeschichte ist in einen globalgeschichtlichen Rahmen zu stellen.
Gabriele Woidelko, Leiterin des Bereichs Geschichte und Politik bei der Körber-Stiftung, präsentierte eine innovativen Erinnerungspraxis, aufgezeigt am Beispiel Hamburgs: Städtische Denkmäler können per Smartphone konstruiert und damit fern vom Standort betrachtet werden – expanding public commemoration!
In einer weiteren Sitzung erläuterte Pieter Mannak von der Hochschule Utrecht Funktionieren, Nutzen und Herausforderungen von KI für den Geschichtsunterricht. Wie kann sich KI auf die Kreativität der Studierenden auswirken? Zu überprüfen sind Stärken und Schwächen von ChatGPT bei dessen Anwendung auf Lernprozesse und Unterricht.
Als Vorteile von KI können ihre erhöhte Zugänglichkeit, datengestützte Erkenntnis und ihr Zugang zu verschiedenen Perspektiven gesehen werden;
als Herausforderungen Fragen der Informationsgenauigkeit, der Möglichkeit des kritischen Denkens, moralische und ethische Aspekte sowie der Verlust menschlicher Interaktion.
Lehrpersonen könnten mit ChatGPT Ideen für den Lehrplan sammeln und sich von KI Feedback geben lassen. Sinnvoll ist ein Austausch mit andern Lehrpersonen.
In einer abschliessenden Dialogsession stellte Maja Nenadovic, Historikerin und Menschenrechtsanwältin, die Frage in den Raum, was uns Geschichtslehrpersonen bewegt. Es entspann sich eine angeregte Diskussion zur Relevanz des Geschichtswettbewerbs und des Geschichtsunterrichts in einer polarisierten Zeit.
Samstag, 9. März
Dieser Tag bot Gelegenheit, sich über die Besonderheiten der einzelnen Wettbewerbe auszutauschen. Was macht einen guten Wettbewerb, eine geeignete Werbung dafür aus?
In Workshops standen verschiedene Themen zur Debatte:
Karsten Korbol aus Norwegen sprach über seine Erfahrungen mit KI im Geschichtsunterricht. Die Schüler/innen sollen sich vorerst genügend Informationen zu KI aneignen und sie in reflektierter Weise nutzen.
Fernbleiben vom Unterricht und vorzeitiges Verlassen der Schule ist zu einem realen Problem für SchülerInnen geworden. Betroffen sind insbesondere Immigrantenkinder; in Spanien jene aus Nordafrika. Zur Problemlösung möchte ein Projekt der spanischen Stiftung Real Maestranza de Caballeria de Ronda (RMR), Sektion von Eustory, beitragen: Zu fördern sind,so der Direktor von RMR, Igancio Herrera de La Muela, ein gutes schulisches Zusammenlebens, eine gute Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler/in, die Vermittlung von Basiswissen, Supervision und sinnvolle Aktivitäten wie die Teilnahme an Geschichtswettbewerben.
Ein interessanter Workshop war dem Geschichtswettbewerb von Georgien, «Geschichtsfälschung – ein Propagandainstrument», Teil eines Projekts Georgiens, Moldawiens, Armeniens und der Ukraine, gewidmet. Die Teilnehmer/innen sollen in ihrer Arbeit Empfehlungen für eine Lehrerausbildung entwickeln, mit der quellenbasierter Geschichtsunterricht gefördert wird. Quellenanalyse ist ein Instrument, um geschichtsbasierte politische Propaganda zu durchleuchten. Ein Hauptziel des Projekts besteht darin, Richtlinien vorzuschlagen, Propaganda im Unterricht zu behandeln.
Ein eindrückliches Referat hielten die Vertreterinnen des ukrainischen Geschichtswettbewerbs, Nataliya Sadkova und Iryna Kobyzhcha. Sie erläuterten die Konzeption des aktuellen Wettbewerbs: Die Schüler*innen untersuchten die Sowjetpropaganda in der Ukraine und führten Interviews mit Zeitzeugen. Die Geschichtslehrpersonen absolvierten ein Onlineseminar zur Sowjetvergangenheit und zur Frage, wie man mit Kindern über Krieg und Propaganda sprechen kann, und erstellten ein Handbuch zum Thema totalitäre Propaganda im 20. und 21. Jahrhundert. Die Website des ukrainischen Wettbewerbs wurde um die Rubrik «Achtung. Propaganda» ergänzt.
In einem zweiten Teil schilderten die Referentinnen die schwierigen Unterrichtsbedingungen in Zeiten des Kriegs. Eine Schule muss stets bereit sein, bei Alarm zu reagieren. Schüler und Schülerinnen verarbeiten ihre Kriegstraumata in Zeichnungen, die näher zu betrachten wir Gelegenheit hatten: Verlust eines Zuhauses, von Eltern und Verwandten, Vergewaltigungen, Vertreibung in russisches Gebiet.
Eine Rück- und eine Vorschau auf die Aktivitäten von Eustory 2023 resp. 2024 präsentierte Melina Heinze, Programmmanagerin von EUSTORY.
Im Zentrum des EUSTORY-Gipfels 2023 in Prag – mit 100 Teilnehmern*innen ein grosser Erfolg -, stand die Thematik Erinnerungskultur: Wie können wir mit historischen Objekten wie z.B. Gebäuden, in einen Dialog treten? Der EUSTORY-Gipfel 2024 vom 23. – 27. Oktober in Riga beschäftigt sich mit der Frage, wie wir uns in einer polarisierten, von Krieg, Desinformation und Unsicherheit geprägten Welt orientieren und innerstaatliche und grenzüberschreitende Gräben überwinden können. – Auf der Plattform EUSTORY History Campus können junge Menschen Beiträge zu ihrer eigenen Geschichte publizieren und damit Zusammenhänge zwischen Geschichte, Gesellschaft und Politik in Europa aufzeigen.
Den Abschluss des hochinteressanten Treffens bildete der Besuch von Orhheiul Vechi, einem archäologischen Komplex unweit von Chisinau, durchzogen von ca. 300 m hohen Kalksteinhügeln. Zu erwähnen sind Funde aus der Eisen- und Bronzezeit, Festungsbauten des Fürstentums Moldau und ein orthodoxes Höhlenkloster. Orheiul Vechi war im 14. Jahrhundert Siedlungsgebiet der Tataren. Heute ist es staatlich anerkanntes Kultur- und Naturschutzgebiet und nominiertes UNESCO Welterbe.
Das EUSTORY-Jahrestreffen in Moldawien, einem unter Putins Druck stehenden Land, wird mit seinen vielfältigen und eindrücklichen Veranstaltungen den Teilnehmer*innen in bester Erinnerung bleiben!
Ein spezieller Dank gebührt Katja Fausser, Caroline Finkeldey und Melina Heinze von EUSTORY international für die perfekte Organisation des Treffens!
Markus Holenstein